9. Mai 2011

Mit der ARD in eine bessere Welt

Darf man sich darüber freuen, über den 800. Tatort, produziert vom Hessischen Rundfunk, "Eine bessere Welt"? Ja man darf, man sollte sich ausdrücklich aufgefordert fühlen; denn dieser Tatort ist rundum gelungen. Daß er 8,71 Millionen "Bürger ab drei Jahren" und nicht den Höchstwert seit 15 Jahren, 11,79 Millionen Zuschauer, angelockt hat wie das Traumpaar Thiel/Boerne eine Woche vorher, ist ihm nicht vorzuwerfen. Aber sicherlich wird sich das neue Ermittlerteam aus Frankfurt Frank Steier/Conny Mey bald in die Herzen der Krimi-Fans spielen.

Der Titel des Tatorts gibt es vor, und eine zweite Folge ist in Arbeit, "Der Tote im Nachtzug", diesmal ohne Schneelandschaften, die Dreharbeiten gehen bis zum 5. Juni 2011. Wird er 10 Millionen Zuschauer überzeugen? Das perfekt harmonierende Duo Nina Kunzendorf und Joachim Król lassen es wahrscheinlich werden. Und die Miss Marple-Paddington- und Orientexpress-Fans wittern eine moderne Fortsetzung ihrer Freuden. Ich bin schon wahnsinnig gespannt.

Drehbuchautor und Regisseur Lars Kraume hat für diesen Tatort erstmalig die sensationelle Idee, daß es keinen Mord und keinen Mörder gibt. Die Tatort-Krimis gewinnen eine ganz neue die Krimi-Welt revolutionierende Dimension. Beginnend mit der herzzerreißenden Szene, da der Vater seinem im Koma liegenden Sohn nicht mehr die Seite des Märchenbuches zu Ende vorlesen darf, der Arzt untersagt es ihm und fordert ihn dann auch noch in einem Atemzug auf, sein Einverständnis zu geben, daß man ihn von den Geräten abschaltet und sterben läßt, bis zum folgenden Theaterdonner im Kommissariat: "Ich möchte einen Mord melden", ist die Richtung klar, hier geht es um mehr, um was, das erfahren die Zuschauer in den nächsten 90 Minuten. Es geht um "eine bessere Welt", in der Menschen, die einen Mord melden "möchten", zu einer solchen Perversität keine Gelegenheit mehr haben.

Der neue Tatort ist das Ei des Kolumbus, nach den Versuchen der letzten zehn/fünfzehn Jahre, den Tatort sich weg von einem gewöhnlichen, nur der Unterhaltung verpflichteten Krimi à la Brinkmann, Stoever/Brockmüller, Haferkamp und Bienzle zu subtilen gesellschaftskritischen Studien entwickeln zu lassen, und dabei die Ermittler ins Mordgeschehen einzubeziehen, sie mit dem Opfer verwandt, dem Täter befreundet, der Kronzeugin im Bett verbunden einzusetzen, ist die "Mordverhinderungskommission" die Lösung!

Auch die Tatort-Fans, sonst oft mit mir meiner harschen Kritik wegen nicht einer Meinung, einer beschimpft mich sogar als Troll, sind wie ich dem Charme der "besseren Welt" erlegen: "Super Team! Super Tatort! (B. Schenk) Da kann ich mich nur anschließen – absolut klasse! Ich hatte 90 Minuten lang vergessen, daß ich eigentlich Kettenraucher bin! Hoffentlich sehen wir in Zukunft mehr davon! (Christian Rolf) Exzellenter Tatort, hammerscharfe Kommissarin, sehr sexy. Geiles Outfit, coole Karre (Golf GTI). Superspannend das Ganze, mit echten Psycho-Momenten. Und ein geiler Showdown zum Schluss. Weiter so – bester Tatort seit 'Der tote Chinese'. (Christian Braun)" Guter Tatort-Einstand - anders, schräg, spannend und gute Schauspieler. Mehr davon (pumpkins). Nur gjb, der alte Nörgler, erkennt nicht die Zeichen der Zeit: "hallo, diesen überschwang verstehe ich nicht ganz…. eigenbrötlerische ermittler gibt es wie sand am meer… die kommissarin etwas besonderes ?? worin ? grüsse gjb"

Die Nuancen, die Joachim Król als impressionistische Tupfer durch die bis zur Auflösung seiner selbst reichenden Zurückhaltung ins Spiel haucht, die weiß mancher nicht zu würdigen. Schon in Dona Leon zelebriert er solche Nichtauftritte, das muß einer erst einmal können, es ist ganz großes Kino.

Und die Kommissarin! Es ist ein Genuß, dieser Frankfurter Carmen, die auf den ersten Blick so ganz&gar nicht einer Kommissarin entspricht, bei den Ermittlungen zuzusehen. Es reicht eben nicht, wie die Leipziger Kommissarin Simone Thomalla die aufgeworfenen Lippen in die Kamera zu halten, sich aber ansonsten zugeknöpft zu präsentieren. Das mag im ehemaligen Osten nicht auffallen, wo die älteren Zuschauer solches nach ihren Erfahrungen mit FKK am Ostseestrand sowieso nicht wahrnehmen, im Westen aber ist das nicht genug, da wollen Kritiker mehr Lust auf weitere Folgen, wenn auch vielleicht ein wenig zurückgenommener, und die Stiefel knallen manchen von ihnen auch zu sehr übern Gang.

Aber Conny Mey! Ihr Outfit ist genial, sehr westlich-sexy, eng anliegende unterm Hintern verwaschene Jeans, Nietengürtel, Pistolenhalfter, knappes Westchen und darunter, kaum verdeckt von einem pinkfarbenen T-Shirt, zwei reizende Äpfelchen, auf die der Anhänger einer fein ziselierten Kette tropft. Und die Riesenohrringe unter den schulterlangen schwarzen Haaren! Solch einen Vogel fängt man schwer! Kritiker und TV-Publikum sind sich einig über den gelungenen Dienstanzug. Nebenbei repräsentiert sie, ein wenig retro, den Frankfurter Saloon der einstens amerikanischen Zone, nur daß sie die Pistolen nicht am Hüfthalter trägt. Das sollte man für die neuen Folgen erwägen.

Die Sexaffäre mit dem Polizeipsychologen ist ausbaufähig, der Tatort sollte auf keinen Fall ohne jede Erothik dahinplätschern wie bei Kommissar Borowski und Frieda Jung. Conny Mey hat schon einiges vorgelegt, vielleicht einmal Sex auf dem Schreibtisch - wenn auch nur angedeutet, nach Vollzug, der Bürger ab drei Jahre wegen? Wenn dann noch diabolische Gestalten aus der schlechteren Welt, wie der rachsüchtige Sven Döring, Vater des angeblichen Mordopfers, nicht nur Schrecken verbreiteten, sondern gen Ende der Sendung geläutert würden und bei ihrem Opfer Abbitte täten? Der Vater könnte beispielsweise die Postbotin als Erbin einsetzen - ach, ich wage es nicht zu träumen!

Schon der HR-Tatort mit dem todkranken Kommissar Felix Murot, der bis dahin "aufregendsten Figur" hat mich einfache Zuschauerin wie die Kritikerwelt dahinschmelzen lassen. Großes Kino deutet sich an, Hollywood, "da stört auch die verworrene RAF-Geschichte nicht." Die Hessen spielen seit Kommissar Brinkmann, nach zehn Jahren, erstmals wieder in der Ersten Liga, möge der Kommissar seiner schweren Krankheit nicht so bald erliegen.

Mit dem Tatort "Eine bessere Welt" aber ist die Grenze zur Kunst für immer überschritten, es handelt sich um anspruchsvolles Fernsehen, um Fernsehen, das Ansprüche an sich und die Zuschauer stellt. Alle folgenden Tatorte werden sich daran messen lassen müssen.

Danke an den HR, und weiter so!